Artikel im Sonderblatt "Gegen Gewalt"
Der Wochenspiegel veröffentlichte am 26.11.2022 ein Sonderblatt "Gegen Gewalt" und darin wurde auf der Seite 10 über Lichtweg.de und unsere Gründerin berichtet.
Der Artikel kann triggern, pass bitte gut auf Dich auf.
PDF Datei ansehenDas Erlebte wirkt ein Leben lang nach
Die Online-Selbsthilfe-Plattform lichtweg.de hilft Betroffenen von sexualisierter Gewalt im Kindesalter
von Dr. Torsten TrappGut 20 Jahre ist es nun her, dass Sandra die Website lichtweg.de freigeschaltet hat. Damals war sie Anfang 20 und es war zunächst für sie selbst ein Weg, das Erlebte zu verarbeiten. „In den ersten Jahren ging es mir vor allem darum, meinen eigenen Schmerz mitzuteilen und Verständnis zu finden. Ich wurde in meiner Kindheit von zwei Tätern missbraucht, hab diese angezeigt und hab mit dem Lichtweg einen Ort geschaffen, über die Erlebnisse zu sprechen. Endlich fühlte ich mich verstanden und sah, dass es mir nicht allein so erging“, schreibt Sandra auf der Seite zu ihren Beweggründen. Und ergänzt: „Der Austausch tat mir sehr gut und hilft mir noch heute, seit über 21 Jahren meinen Weg mit Lichtweg zu gehen.“
Betroffenen einen Ort der Selbsthilfe geben
Die Seite lichtweg.de hat schnell weitere Kreise gezogen, mehr und mehr Betroffene haben den Weg über die Jahre hierhin gefunden. Zielgruppe dieser Online-Plattform für erwachsene Betroffene von sexuellem Missbrauch im Kindesalter. Es ist ein Ort, wo sie viele Jahre nach den Taten über das Erlebte sprechen können, Erfahrungen austauschen können, verstanden und bestätigt werden in ihrem Handeln. „Ich habe mir zum Ziel gesetzt, allen Betroffenen einen Ort der Selbsthilfe zu geben. Den Lichtweg als Plattform wachsen zu lassen und die Selbsthilfe weiter zu stärken. Ich möchte allen, die es mögen, Hilfe anbieten, und die Möglichkeit geben, sich zu öffnen und mitzuteilen. Es lohnt sich“, ergänzt Sandra.
Missbrauch im Familienumfeld erlebt
Ihre eigenen Missbrauchserlebnisse unterteilen sich in zwei Phasen – und zwei Täter, beide aus dem familiären Umfeld. Im April 2004 hat sie Anzeige erstattet gegen V., ihren Onkel, den Bruder ihrer Mutter. V. wurde schließlich angeklagt, zwischen Sommer 1986 und Januar 1991 immer wieder sexuelle Handlungen an Sandra vorgenommen zu haben. Bei seiner Vernehmung machte er kein Hehl aus seinen Taten. „Ich gebe es zu. Ja. Das war so. Warum ich das gemacht habe, weiß ich nicht“, zitiert Sandra die Aussage ihres Onkels. Sechs oder sieben Jahre alt war sie wohl, als es begonnen hat. Letztlich lässt sich der genaue Tatzeitraum nicht mehr exakt feststellen. Am Ende des Prozesses gegen V. stand das Urteil: 3.000 Euro Schmerzensgeld, 1,5 Jahre Haft zur Bewährung mit einer Bewährungszeit von drei Jahren. „V.s Garten grenzt an einen Kindergarten, er ist Beisitzer im örtlichen Fußballverein und spielt bei den Alten Herren, ist beim Kinderfasching seit Jahren zum Dienst eingeteilt und alle schauen weg“, blickt Sandra voll Bitterkeit und zugleich Sorge darauf, dass ihr Peiniger heute ein normales, gutbürgerliches Leben führt. Der zweite Täter, nennen wir ihn M., war ein Freund von Sandras Eltern. Bereits im Februar 2000 hat sie gegen ihn Anzeige erstattet. Damals, so berichtet sie, habe sie erfahren, dass M. zwei junge Mädchen zu sich eingeladen hatte, um ihnen „seinen Fernseher zu zeigen“. Es war der Impuls für sie, nun nicht länger zu schweigen. Über die Beratungsstelle NELE erhielt sie Kontaktdaten zum Landeskriminalamt. Dort nannte sie als Tatzeit die Jahre zwischen 1991 und 1994. M. wurde schließlich angeklagt, zwischen Sommer 1991 und Sommer 1992 mindestens zwölf Mal sexuelle Handlungen an Sandra vorgenommen zu haben. Auf ihre Frage, warum nur dieses eine Jahr zur Anklage kommt, erhielt sie von ihrer Anwältin die Antwort, dass sie im Sommer 1992 14 Jahre alt geworden sei.
Ein Freispruch für den Täter
Zum Hintergrund: Bis zum Alter von 14 Jahren handelt es sich nach den §§ 176-176b StGB um sexuellen Missbrauch von Kindern, im Alter zwischen 14 und 18 Jahren nach § 182 StGB um sexuellen Missbrauch von Jugendlichen. Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs führt dazu aus (Stand August 2021): „Da Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren in der Lage sein müssen, eigene sexuelle Erfahrungen zu sammeln und sich zu entdecken, sind die strafbaren Handlungen hier sehr viel enger gefasst als im kindlichen Bereich. Es ist nicht mehr jede sexuelle Handlung unter Strafe gestellt, sondern es kommt auf die Freiwilligkeit und die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung der Jugendlichen an. Ist beides gegeben, so sind sexuelle Handlungen straflos.“ Genau dies machte sich M. zu eigen, indem er behauptete, nie vor Sommer 1992 im Elternhaus von Sandra übernachtet zu haben, bestritt aber die Taten selbst nicht. Das Verfahren endete mit einem Freispruch, weil nicht zu beweisen war, dass die sexuellen Handlungen vor dem 14. Geburtstag vorgenommen wurden. Die vorliegende Verlautbarung des Urteils schließt gleichwohl mit bemerkenswerten Worten: „So bleibt letzten Endes die Erkenntnis, dass der Angeklagte die Freundschaft und das Vertrauen der Familie H. in unerhörter und verabscheuungswürdiger Art und Weise missbraucht und zur Befriedigung seiner sexuellen Triebe genutzt hat. Die Erfüllung eines Straftatbestandes lässt sich gleichwohl nicht sicher feststellen, so dass die zwangsläufige - und für das Gericht absolut unbefriedigende - Folge der Freispruch des Angeklagten war.“
Verurteilung im Berufungsverfahren
Schließlich konnte im Berufungsverfahren doch nachgewiesen werden, dass der Missbrauch schon vor dem 14. Geburtstag begann. Der Prozess endete für M. damit, dass er knapp 1.300 Euro Schmerzensgeld zahlen musste, sich Sandra nicht mehr nähern durfte und die Akte zehn Jahre bestehen blieb. Seit damals hat sich einiges in der Bewertung der Taten geändert. Was früher als Vergehen eingestuft wurde, hat heute vielfach den Stellenwert eines Verbrechens. Das in weiten Teilen zum 1. Juli 2021 in Kraft getretene Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder hat den Strafrahmen deutlich heraufgesetzt. Ein Vergehen liegt nur noch dann vor, wenn es nicht zum körperlichen Kontakt kommt, sondern der Täter bzw. die Täterin z. B. mit sexualisierten Nachrichten oder pornografischen Bildern auf das Kind einwirkt oder sexuelle Handlungen an sich vor dem Kind vornimmt (Mindeststrafe sechs Monate). Wer, z.B. in einem Chat, auf ein Kind einwirkt, um es zu sexuellen Handlungen zu bringen (Cybergrooming), macht sich ebenfalls eines Vergehens schuldig (Mindeststrafe drei Monate). Verbrechen hingegen sind nach § 12 StGB Straftaten, die mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet werden.
Traumata und Therapien
Auf Grundlage der eigenen Erfahrung, durch die Traumata die Ereignisse nicht mehr richtig einordnen zu können, rät Sandra Missbrauchsopfern dringend dazu, ein Tagebuch mit Datum zu führen. Die Missbrauchserfahrungen haben bei ihr tiefe Wunden gerissen. Zu den Eltern besteht kaum noch Kontakt, ihre Tanten haben sich nach der Anzeige gegen ihren Onkel V. von ihr abgewandt. Jahrelange Therapien haben ihr auf ihrem Lebensweg geholfen, aber bis heute kämpft sie immer wieder mit ihren Traumata und hat professionelle Hilfe. Es habe ihr sehr viel gebracht, die Täter angezeigt und die Geschehnisse öffentlich gemacht zu haben, es habe sie gestärkt. Und dennoch: Vielfach werde Betroffenen noch immer nicht geglaubt. In diesem Zusammenhang kritisiert Sandra auch, dass das Saarland 2021 bundesweit die höchste Ablehnungsquote (61,9 Prozent) bei Anträgen auf Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) hat. Darauf weist auch die Opferschutzorganisation „Weißer Ring“ aktuell hin.
Saarländischer Selbsthilfepreis für lichtweg.de
Die Plattform lichtweg.de hat sich von einem privaten Projekt der Gründerin zu einem umfassenden Forum zum Austausch mit einem großen Informationsangebot ausgeweitet. Die Auszeichnung mit dem Saarländischen Selbsthilfepreis 2021 unterstreicht die Wichtigkeit, die Vielseitigkeit der Inhalte und ist Anerkennung für die in vielerlei Hinsicht angebotene Hilfe. Heute kümmern sich rund 20 ehrenamtlich tätige Personen als Patenteam um die User und um die verschiedenen Themenbereiche. Dazu gibt es drei Selbsthilfegruppen, die sich wöchentlich per Video treffen: eine Frauengruppe mittwochs um 18 Uhr und zwei gemischte Gruppen mittwochs um 20.15 Uhr und freitags um 19.30 Uhr. Es gibt eine Buchausleihe mit themenbezogenen aktuellen Titeln, für Mitglieder steht eine psychologische Telefon- und E-Mail-Beratung bereit, ein Psychotherapeuten- Netzwerk steht zur Verfügung, zu dem auch ein Heilpraktiker als selbst Betroffener gehört. Viele weitere hilfreiche Verweise ergänzen das Angebot. Die registrierten Mitglieder haben außerdem Zugang zu einem engeren Forum, derzeit sind 3.148 Personen hierfür registriert. Insgesamt haben seit der Gründung weit mehr als sieben Millionen Besucherinnen und Besucher auf lichtweg.de zugegriffen. Allein in diesem Jahr sind bis September 272 Mitglieder neu hinzugekommen, im letzten Jahr waren es 435 – vor allem selbst Betroffene, nur wenige Angehörige. Die Zahlen lassen erahnen, wie groß die Zahl Betroffener von sexuellem Missbrauch im Kindesalter ist und wie hoch die Dunkelziffer.
Demnächst wird es auf der Website Instagram mehrere Info-Kampagnen geben, kündigt Sandra an. Sie werden zentrale
Themen und Fragen zum Inhalt haben: Folgen von Missbrauch / Räume / Täter / Was ist sexuelle Gewalt? Ein
Blick auf die Seite lohnt sich! tt